Stechend
Wolfgang Menz über eine ungewöhnliche Wutverarbeitung
Gehört hatte ich am Abend davon. Am Morgen überzeugte ich mich, dass tatsächlich alle drei Reifen des Rads zerstochen wurden. Ich kenne das behindertengerechte Dreirad und traf auch die Fahrerin davor. „Ich hätte nicht gedacht, dass sowas nun auch bei uns geschieht,“ sagte ich entrüstet. „Ich auch nicht“, erwiderte die Frau. Die Polizei sei bereits vor Ort gewesen.
Wir verabschiedeten uns. Wenige Schritte voneinander entfernt, rief sie mir nach. Da ich nicht verstand, kehrte ich um. Sie wiederholt ihr Resümee: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Überraschend. Ein Jesuswort. Gesprochen über zerstochenen Fahrradreifen!
Bereits am Abend zuvor war Anzeige erstattet. Gut so. Ab da solle sich die Polizei mit der Tat und (hoffentlich) Bestrafung der Täter befassen! Die Reifen sind hinterhältig zerschlitzt. Doch meine Nachbarin scheint ihre eigenen Gedanken und Gefühle vor weiteren Stichen zu schützen. Offensichtlich soll ihr selbst die Luft zum freien Atmen nicht auch noch entweichen. Ein bemerkenswerter Selbstschutz.
Erst in Zukunft wird sich zeigen, ob das Verfahren eingestellt werden muss. Aber schon jetzt hat sich meine Nachbarin eingestellt: Gegen wütende Gedanken, die sich wie Zecken einnisten. Beißend. Nervend. Am liebsten auf Dauer.
„Da sei Gott vor“ nennt mancher diesen schützenden Abstand.
Wolfgang Menz ist Sozialpädagoge
Kontakt: kolumne@kirche-leipzig.de
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