Wo ist dein Bruder?

Betagte haben viel zu erzählen. Wenn sie nicht vergesslich geworden sind. Bei ihm aber hat sich alles tief eingeprägt. Vielleicht fürchteten seine Geburtstagsgäste, dass er ins Erzählen alter Geschichten kommt. Wieder nur von großen Heldentaten erzählt. So schenkten sie ihm ein Kunstwerk. Als Anregung, den Horizont zu weiten.

Besuchen Sie doch einmal diesen Jubilar, das Völkerschlachtdenkmal. Für einen Spaziergang empfehle ich ihnen den Seitenaufgang von der Tabaksmühle. Dort steht das Geschenk seit zwanzig Jahren. Gerade in dieser Woche lohnt sich wieder einmal eine Begegnung.

Es ist eine Stele, drei Meter hoch, weißer Sandstein, quadratischer Grundriss. Auf einem Relief kauert ein Mann am Boden. Über ihm holt kraftvoll gerade ein zweiter zum nächsten Schlag aus. Dann wird es totenstill. Es sei denn, einer würde ihn beklagen. Und einer könnte das hören.

„Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde“, steht auf der benachbarten Seite. So wehren sich Mord- und Totschlag gegen das Vergessen. „Was hast du getan?“, fragt Gott, in der uralten Erzählung von Kain und Abel. „Wo ist dein Bruder?“

Krieg. Seit nun einem Jahr erschlägt einer den anderen. Mein Gott – ich weiß nicht, wie dies himmelschreiende Leid endlich aufhören kann. Mein Besuch endete vor der dritten Seite. Da hinterlässt der Regen – wie Tränen – seine Spuren.

von Wolfgang Menz, Sozialpädagoge

 

Foto: Pixabay