Vorfahrtsregel

Anna-Maria Busch über respektvolle Kommunikation

 „Jeder Mensch ist eine Insel.“, ist die Grundannahme im Kommunikationsmodell von Vera Birkenbihl. Wir sind individuell geprägt von persönlichen, kulturellen, sozialen Kontexten. Daraus leiten wir ab, was für uns jeweils als normal gilt. Treten wir nun mit anderen in Kommunikation, müssen wir unweigerlich Brücken zur Wirklichkeit des Gegenübers bauen mit der wertfreien Leitfrage: „Was ist dort normal?“. Sie nennt es Glück, wenn sich die Inseln überschneiden. Andernfalls erleben wir Fremdheit, Unverständnis und Ablehnung, erklären die eigene Wirklichkeit zur einzig wahren, werten die Gesprächspartner und -partnerinnen ab.

Dies ist derzeit an vielen Stellen spürbar. Schnell werden Vorwürfe in Tonalitäten formuliert, die verletzen, und andererseits wieder zu Vorwürfen und scharfen Urteilen führen. Ich bin erschüttert, wie Menschen in der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt werden. Manchmal sind es verbale Hinrichtungen.

Birkenbihl formuliert deshalb eine Vorfahrtsregel für Kommunikation: Verstehen geht über Verstanden werden.

Nicht ich muss mich erklären und überzeugen, sondern ich brauche Empathie, Geduld und höre zu, um dem näher zu kommen, was mein Gegenüber sagen will. Das funktioniert umso besser, je mehr ich mir meinem „Insel-Hinterland“ bewusst bin und es reflektiere.

Schon Jesus gibt den Menschen eine ähnliche Respektsregel mit auf den Weg: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Mitmenschen, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (Matthäus 7,3) – eine Vorfahrtsregel für demütigen Respekt im Miteinander, die verstehende Kommunikation ermöglicht.

Anna-Maria Busch, Pfarrerin im Südosten
Kontakt: kolumne@kirche-leipzig.de

 

Straßenkreuzung, Foto: Wolfgang Erler